aus|cul|ta|tio|nes

CD ARBE 15 (2020)
Bertl Mütter, Posaune, Komposition
Robert Pavlecka, Tonmeister
Aufgenommen im (leeren) Stephansdom, Wien
Booklet | Aufnahmeorte

Wien (A), Stephansdom, Bartholomäuskapelle, 13.5.2020. Video: Robert Pavlecka


aus|cul|ta|tio|nes

auscultare lat. – aufmerksam zuhören, lauschen, belauschen, abhören
auscultatio f – Zuhören; Horchen; Gehorchen; Folgeleisten; Lauschen; Ohrenbläserei1
Unter Auskultation (von lat. auscultare – (eifrig) zuhören, aufmerksam zuhören, abhorchen) oder Abhorchen versteht man in der Medizin das Abhören des Körpers, typischerweise mit dem Stethoskop (oder Hörrohr). Die Auskultation ist Bestandteil der körperlichen Untersuchung.2

aus|cul|ta|tio|nes könnte also meinen:

Das (wie) systematische Abhorchen des Stephansdoms in Zeiten der inneren Leere, die die Fülle selbst ist bzw. sein könnte.


Kirchenmausmusik i.t.c.

Als Musiker unmittelbar für Menschen spielen zu dürfen ist mir unabdingbare Quelle der Vitalität. Wenn es nicht möglich ist, bedeutet das, dass meine Liebe ins Leere rennt – ohne Gegenüber verdorrt Alles. Jules Renard (1864–1910) schreibt am 7. Mai 1891 in sein Tagebuch3: »Die flüchtige Idee beim Schopfe fassen und ihr die Nase auf dem Papier plattdrücken.« Kairós heißt dieser fruchtbringende Augenblick, und es liegt in der Natur der Sache, dass ein solcher in Zeiten der Enge schwer nur offenbar wird: die Bedrängnisse hemmen, bremsen, verstören, behindern, lassen einen wie ein junger Panther im Käfig sich herumwerfen, und bekanntlich hatten sich bereits zu Kafkas Zeiten Hungerkünstler längst überlebt. Es gilt beständig unseren Blick neu zu justieren: Nicht zuletzt fürs Visionäre apostrophiert der Staat seinen Kunstschaffenden ja Systemrelevanz; wenn auch Systemrelevanzkonsequenz das bleibt, was sie ist: Ein umständliches Fremdwort.

Gegen Ende April 2020, nach Wochen der Lähmung, nahm ich auf Einladung der Initiative Architektur Hören zwei Improvisationen auf, bei denen ich mich auf die Klanglichkeit von Barbara- und Eligiuskapelle im Wiener Stephansdom einließ, souverän getragen von Robert Pavlecka, meinem Meister des Tons. Mit einemmal blitzte da mein Kairós auf: Anstatt in dieser auferlegten Passivität zu verharren und über den gesellschaftlichen Stillstand in tempore coronæ zu lamentieren, können wir doch dieses einmalige Potential der Ruhe nutzen! Freundlich unterstützt von maßgeblichen Menschen am, im, um und unterm Dom, konnten wir in der Folge realisieren, was unter gewöhnlichen Umständen unmöglich gewesen wäre: Nicht einmal im Stephansdom Heimische kannten ihn bislang bei Tageslicht menschenleer und entsprechend stille!

Beim Aufnehmen haben wir sämtliche Räume genau so akzeptiert, wie wir sie vorgefunden haben. Das schließt akustische Einträge mit ein, auf die wir ohnehin keinen Einfluss ausüben konnten: Ist doch meine bescheidene Klanggreißlerei kein kommerziell potentes Major-Label, das den Sakralraum für seine Primadonna samt assoziiertem Tenorhelden anmieten kann, wenn das Image einer kontemplativen Note bedarf. Nein, der Dom ist kein steriles Studio und auch keine Konzerthalle mit roten Warnlampen oberhalb billeteurbewehrter Einlässe, Absolute Ruhe! gebietend. Indes, wir hatten es nicht für möglich gehalten, wie weit die zu jener Zeit sich zurückziehende Welt akustisch vorzudringen in der Lage sein würde: selbst die Katakomben kennen die Pure Stille nicht. Also hören sie in den aus|cul|ta|tio|nes zu meinen trombonautischen Raumvermessungen aufbrausende Orgelklänge, vorbeigehende Kellerelektriker, Heizungs- und Lüftungsgeräusche, kreischende Scharniere, klimpernde Schlüssel, tickende Uhren, nächtlich Skateboardende ante portas gleichwie Aussetzungsanbetende intra muros, sowie vielfältigste weitere Klänge, sie mögen sich ans Ohr geschlichen oder gerempelt haben – allen gemein ist lauterste Absichtslosigkeit, in irgendeiner Weise zu stören. Vorerst ungeklärt allerdings ist, ob in die Katharinenkapelle Über- oder Außerirdische hineingefunkt haben; hat das elektronische Bruzzeln damit zu tun, dass dieser Raum stark mit Wolfgang Amadeus Mozart assoziiert ist und die Krone des Taufsteins auf wunderliche Weise gleich einem Foucaultschen Pendel geschwungen hat?

Einschränkend eingeräumt werden muss, dass viele Wunder nur bis zu ihrer naturwissenschaftlichen Entzauberung als solche bestehen können:

Was an Wahrheit gerettet wird auf dieser Welt, wird an Magischem eingebüßt.
Albert Vigoleis Thelen4

Es mag paradox erscheinen, aber gerade durch eben jene Beiklänge – denen ich das Epitheton Lärm (was störender Schall per definitionem wäre) hiermit ausdrücklich versage – wird die außerordentliche Stille, in die der Dom im Frühling 2020 selbst am helllichten Tag getaucht war, aufs eindrücklichste dokumentiert. Gehen Sie doch nach dem Auslaufen der sog. Neuen Normalität ins zentrale Sakralgebäude einer beliebigen Metropole und weiden Sie Ihre Ohren am babylonischen Zaustergewäsch (Thelen), dem Pegel, den die kollektive chaotische Lebendigkeit wachruft. Verglichen damit war was wir gesammelt haben ein Kirchenmaustritt.

Fünf Monate nach dem obigen Eintrag, am 9. Oktober 1891, notiert Jules Renard: »Das wahre Glück wäre, sich an die Gegenwart zu erinnern.« … Vielleicht können meine Klänge eine gewisse Hilfe dabei, nein: dafür sein.


Lauteres Klingen

Wer nicht bereit ist, sich bloßzustellen, oder wer immer nur ein gutes Bild von sich selbst darstellen möchte, sollte besser schweigen.
Philipp Harnoncourt

vs.

Mir schupft es das Blut eimerweise durch den Körper.
Andreas Okopenko

Du spielst ein kleines Motiv, variierst es sinnreich, addierst deinem frühlingshaften Florilegium einen wohlklingenden Gedanken. Da passiert dir eine kleine, völlig unbedeutende Unreinheit im Ton, ein leichtes Bröseln, eine Bindung gerät etwas holprig und das Intervall ist nicht so sauber, wie du es gerne gehabt hättest und es jedenfalls sein müsste: Fehler! Um zu kaschieren, wiederholst du ihn, sie!, wörtlich, sinngemäß, in Paraphrasen, so gut es geht. Dadurch erscheint jetzt alles Erklungene wie genau so gewollt: »Wenn du einen Fehler machst, wiederhole ihn dreimal, dann ist er richtig.« Diese Strategie hat als unfreiwillig verinnerlichtes Erbe der einst mehr durchlittenen Schule des Jazz in dein Spiel hineingewirkt, fein marmoriert, manchesmal auch gröber: Nicht jeder hat immer das Zeug zum Kobe-Rind, und wer täte einen auch dreimal täglich wohlig und zielführend massieren, zu wessen Vorteil, der vom persönlichen Jenseits her jedenfalls anderen schmeckt?!

Beim Weiterspielen passierst du zusätzliche Unebenheiten, regelrechte Schlaglöcher klaffen auf, üble Patzer passieren. Derart steckst du mitten im dich beim Tun zunehmend abschätziger Kritisieren, gleich von allem Anfang an war es das erschreckend wohlbegründet befürchtete ausufernde Schlamassel! Nichtswürdiger du, nüchtern besehen hast du nie noch im mindesten einen klar artikulierten, korrekt intonierten Ton hervorgebracht! … Die immer verzweifelteren Rechtfertigungsaffirmationen überwuchern, umklammern jedes zarte melodische Rinnsal, wie du es möglicherweise intendieren würdest, kanalisieren es unter die Erde, ein trauriger Wienfluss dem gleichermaßen avitalen Donaukanal zu, Rattenzone im besten Fall. Bereits der erste Schritt brachte dich vom Weg aller Tugend ab. Sich verselbständigender Bestemm ist der Höllenweg zu polterndem Populismus unseligster Art. Es ist ein großes Glück für die Menschheit, dass unsereins fast nie irgendein hochrangiges öffentliches Amt zu bekleiden bekommt! Mea culpa! Mea culpa!

Derart in selbstdestruktiven Zwangsgedanken eingesponnen klingt indes draußen dein Spiel fort, es verhallt, der Meister der Aufnahme zeigt mit beiden Daumen nach oben, und du kannst dir nicht vorstellen, was er damit andeuten könnte. Was ist geschehen?

(Dies zur von Improvisatoren gerne propagierten Mär vom achso lauteren, seelenreinen, aller Absichten baren Sein im Spiel.)


Über die allmähliche Verfertigung der Gebäude beim Hören (Claimer)

Dass die wichtigsten Dinge durch Röhren in der Welt ausgerichtet werden.
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch C

Beim Nachhören erscheint mir mein eigenes Spiel im Stephansdom weniger melodisch als vielmehr ein redendes. Aber nicht so, dass ich (Bertl Mütter) rede, sondern eher so (es fällt mir nicht leicht, das korrekt abbildend zu formulieren), dass sich mein Hör-Rohr – die Posaune – als veritables instrumentum in einen intimen Dialog mit den dem jeweiligen Raum innewohnenden Potenzialitäten begibt; meine Lippen, Hände, Zwerchfell (und ihr reichlich komplexes Zusammenwirken) zeichnen lediglich auf, was da ist. Darum ist mir wohl auch der Begriff aus|cul|ta|tio|nes recht unmittelbar eingefallen: Abhorchungen. Wird doch so viel geredet (und noch mehr gemeint) heutzutage.

Ich habe nichts gemacht, nur zugehört, was mir der Dom erzählen wollte.

Damit sich der Kreis schließt, empfehle ich Franz Kafkas letzten Text (zusammengefasst im Band Ein Hungerkünstler) nachzulesen: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. Mäuse können ja auch Kirchenmäuse sein.

(Domrattengebrabbel?)5

  1. Der trombonautische Auscultor bittet, sich von den negativen Implikationen der Ohrenbläserei – »zuträger und einflüsterer von dingen, besonders solchen, die dem hörenden schmeicheln und andere bei ihm verklatschen oder verleumden« – distanzieren zu dürfen: ein Bertl ist kein Jago; inwieweit ihm dies vollumfänglich gelingt, wird gesondert zu bewerten sein.
  2. (Wikipedia)
  3. Jules Renard: Ideen, in Tinte getaucht. Tagebuch-Aufzeichnungen. Ausgewählt und aus dem Französischen übertragen von Liselotte Ronte. Mit einem Nachwort von Hanns Grössel. München: dtv, 1990.
  4. Albert Vigoleis Thelen: Der schwarze Herr Bahßetup. München: dtv, 1991. (1956)
  5. Ein Unbehagen beschleicht mich doch. Särge, Gebeine, Hingerichtete, Sterbende … so viel Tod im Dom, Tote, kaum Leben, viel weniger Überleben, Auferstehen gar.