Schule des Staunens 8.2

7. März 2015

Ich eröffne mit Lichtenberg vs. Lindbergh:

„Die Welt muss noch nicht sehr alt sein, weil die Menschen noch nicht fliegen können.“
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher [D 404] (ca. 1773/75)

Wir alle sind hier (also im Großen Saal) wegen eines Irrtums: Die original intendierte Hörsituation wäre ja jene daheim vor dem Radioapparat. In seinem Film Radio Days (1987) hat Woody Allen ein eindrückliches Stimmungsbild gegeben, wie sich in jener Zeit die Menschen bei wichtigen Ereignissen vor den Radiogeräten versammelt haben, er bringt natürlich auch die legendäre Ausstrahlung von War of the Worlds vom 30. Oktober 1938, dem Vorabend von Halloween. Allen bildet aber nicht die oft erzählte Massenpanik (die ja eher Legende denn historische Tatsache ist) ab, nein, bei ihm verhaut die inszenierte Live-Übertragung der fiktiven Marsianerattacke der unverheirateten Tante ein erotisches Techtelmechtel im Auto.

Charles Lindbergh seinerseits war um diese Zeit schon längst ein gestürzter Engel. Über Hitler sagt er: „Er ist zweifelsohne ein großer Mann und hat, wie ich glaube, viel für das deutsche Volk getan.“ Im Oktober 1938 nimmt er bei einem Empfang in der amerikanischen Botschaft in Berlin den Deutschen Adlerorden aus den Händen von Generalfeldmarschall Hermann Göring entgegen. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen schreibt er in sein Tagebuch: „Wir müssen uns schützen gegen den Angriff fremder Heere und gegen die Auflösung durch fremde Rassen (…) und gegen das Eindringen minderwertigen Blutes.“ Die Beherrschung der Luftfahrtstechnologie betrachtet er als „eines jener unschätzbaren Besitztümer, die der weißen Rasse angesichts einer anschwellenden See aus Gelb, Schwarz und Braun überhaupt das Leben ermöglichen.“ Er spricht bei Massenversammlungen des isolationistischen und offen antisemitischen, rassistischen America First Committe (AFC). Für Innenminister Harold Ickes ist Charles Lindbergh der „amerikanische Nazisympathisant Nummer eins“. Ich nenne ihn einen Moralikarus. 

In Plot against Amerika hat Philip Roth eine düstere Retrovision erstellt, indem er aus der Perspektive des kleinen jüdischen Buben Philip Roth aus Newark, N.J., erzählt, wie es damals war, als Lindbergh, bis knapp vor den Angriff der Japaner auf Pearl Harbour (7. Dezember 1941), Präsident der Vereinigten Staaten war – und dann spurlos verschwand. Mitsamt seinem Flugzeug, versteht sich.