Reptil

20. September 2006

Mittags (zum Wandern war das Wetter zu unsicher) pilgerte (wieauchsonst konnte man die fußläufige Annäherung an Mariazell bezeichnen) er ganz in die Nähe der mitteleuropäischen Gnadenmutter, Hotel-Restaurant (vorm. Großgasthof) Goldenes Kreuz, frische Steinpilze à  la crà¨me mit Semmelknödel, herrlich (möglicherweise: göttlich).
Die Seniorchefin, eine sehr schlanke, äußerst distinguierte Dame hohen Alters, erschien von nirgendwo am verlassenen Nebentisch, um das bereits von Bröseln gereinigte Tischtuch glattzustreichen, eine rituelle Handlung. Ihre gelbgrauen Haare waren streng nach hinten gekämmt und dort zu einem Knoten zusammengefasst, dazu trug sie ein ausgesucht nobles Armband auf pergamentener Haut. Alles in allem sehr elegant, hätte sie eine Urgroßrolle in Reich und Schön spielen können. Was seine Vorstellung bestärkte, war die beunruhigende Beobachtung, dass zur Unterstützung (oder Ermöglichung?) des Dastischtuchglattstreifens ihre Zunge großechsengleich zwischen ihren Lippen horizontal hin und her pendelte ob sie Witterung aufnähme.
Im anderen Eck des kleinen Speisesalons sitzend, duckte er sich in die Wandverkleidung und wagte erst wieder zu atmen, als sie, ebenso unvermittelt wie sie aufgetaucht war, verschwunden war.
Er rieb sich die Augen, zahlte rasch und ging. Was es wohl morgen geben würde. Oder gegeben hätte.