genetisch (offener Brief)

6. Juni 2006

Sehr geehrte Frau Tenner,

im Ö1-Klassik-Treffpunkt am 3. Juni 2006 hat Ihre Gästin Timna Brauer recht anschaulich von ihrer beglückenden Arbeit mit Kindern erzählt.
Im Verlauf des Gesprächs darüber wurde mir augenblicklich schlecht, als Sie plötzlich mehrfach eine vorgegebene Disposition insinuierten, in dem Sinn, dass Kinder jene Musik, in deren Umgebung sie aufwachsen, deswegen so leicht erlernen können, weil sie in ihnen genetisch grundgelegt sei. So Ihre Behauptung.
Unmittelbar vorher aber hatte Timna Brauer von der faszinierenden (und Vorurteilen entgegenlaufenden) Erfahrung erzählt, wie in ihren Konzerten jüngere Kinder (bis zu einem Alter von etwa sechs, sieben Jahren) eine Ihrer kulturellen Herkunft fremde Musik (und sogar Tanzbewegungen) sofort zu adaptieren in der Lage sind. Diese Unvoreingenommenheit verliere sich mit dem vertieften Hineinwachsen in jene Umwelt, in welche die Kinder (und damit wir alle) nun einmal hineingeboren sind.
Damit hatte Timna Brauer die empirische – und vernunftgemäße – Widerlegung einer genetischen Disposition zu spezifischen künstlerischen Leistungen (bzw., das ist immer die Folge, allgemeinmenschlichen Ausdrucksweisen) gebracht.
Sie aber bestanden weiterhin auf dem Begriff genetisch. Mit Timna Brauer aber hatten Sie eine Völker verbindende Brückenbauerin, ja, eine wichtige Heilerin, zu Gast; umso größer ist mein Entsetzen. So harmlos das in diesem Zusammenhang gemeint sein mag, können Behauptungen dieser Art einem obskuren Rassismus (dessen ich Sie nicht bezichtigen will) hilfreiche (Pseudo-)Argumente liefern. Und von da ist es nicht weit zur Wissenschaftlichkeit einer rassischen Physiognomie.

Ich extemporiere common sense (der in Wirklichkeit auf hanebüchenen, völlig überkommenen, sentimentalischen und klischeehaft-romantisierenden Vorstellungen beruht), und er ist leider immer noch allzu weit verbreitet: Der Zigeuner, der seine Musik im Blut hat, der Negerjazz und so weiter; sind ja niedliche Völkchen, solange sie für uns aufspielen, die wir die wahre Hochkultur mit dem Löffel, nein, mit den Genen gefressen haben; und solange sie nicht an die Tore unserer Wohlstandswelt klopfen…

Wie wäre das in ihrem Wirkungsbereich als Chefin des RSO, wenn für Konzertprogramme mit ausgeprägtem Wienbezug (sagen wir Schubert, die Strauß-Dynastie oder auch Mahler und Berg – um die wienerischsten bzw. altösterreichischsten zu nennen) die Musiker zumindest an den entscheidenden Pulten einen genetischen Nachweis zu erbringen hätten, dass sie kraft ihrer Herkunft zur traditionskonformen Interpretation dieser Musik befähigt sind, weil sie diese – unsere – Musik, im Blut haben?

Darf ich Sie also bitten, mir Ihr Verständnis das Adjektivs genetisch zu erläutern.

Oder kann es sein, dass Sie den zutreffenden Begriff soziokulturell gemeint haben?

Ich wäre erleichtert.

Mit freundlichen Grüßen,

Bertl Mütter