Das hat alles mit Erinnern zu tun.
Am ersten Adventwochenende bin ich zu Fuß in die Stadt gegangen, den alten Münichholzweg. Ich habe mir den Winkel vor unserer alten Wohnung in der Buchholzerstraße angeschaut, habe den nachts unbeleuchteten Schotterweg auf der Rückseite vom Straßerhof entlang gesehen, wo die Frauen aus den Kellern herauf zum Wäscheaufhängen gegangen sind und wo wir Kinder gespielt haben, oft verscheucht, wegen der Wäsche. Was habe ich mich immer gefürchtet, wenn ich abends von der Musikschule heimgekommen bin. Bei den Kelleraufgängen lauerten dann nämlich die Mörder, und ich nahm jedesmal schon auf der Gablerstraße den Haustorschlüssel in die Hand, um ihn parat zu haben, wenn ich ihn atemlos vom Rennen zitternd ins Schlüsselloch fingerte, denn im Winter war die Haustür schon ab sieben Uhr zugesperrt. Ein paar Mal hat es mich auch geschmissen, mitsamt meiner Tenorhornschachtel, vornüber, dann hörte ich sie schon kommen und nur ein Wunder hat mich jedes Mal gerettet.
Jetzt muss ich erkennen: Es waren nur wenige Meter, dreißig vielleicht. Alles war früher so viel größer! Mitgewachsen sind nur die Weihnachtsdekorationen und die Pfefferkuchenhäuser auf der Promenade und überhaupt alles, was mit der Vorstellung von Wie es früher war zu tun hat. Es ist dies aber ein hoffnungsloser Versuch, die Proportionen lassen sich nämlich nicht beliebig erweitern. Wenn in den weihnachtlich aufbereiteten Einkaufswelten Christbaumkugeln baumeln, groß wie Medizinbälle (© Josef Haslinger), dazu hängt in jeder Stadt der größte Adventkranz der Welt (oder zumindest Mitteleuropas), so beschwört das mit aller Gewalt das verlorene Staunen des Kindes, und das ist ein hoffnungsloser Versuch in dieser Zeit der großen Hoffnung. Das Erzeugen von Staunen ist zur Poesie-Industrie verkommen.
Das Gefühl damals mag groß gewesen sein; es erwuchs aber aus dem Kleinen.
Distanzen, Proportionen
11. Dezember 2004