Gewissheit

19. Dezember 2023

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.

Mt 18,3

Die alten Leute. Das Abschiednehmen auf Raten. Beim zweiten mütterlichen Elternteil (diesfalls dem weiblichen – ich muss spezifizieren, habe/hatte ich doch ausschließlich solcherartige) bin ich schon etwas routinierter. Dennoch, aus ebenjenem Stall kommend, bin ich alles andere als durch Distanz geschützt. Es ist eine große Übung in Humor, wenn er auch meist erst hintenrum, nicht in der situativ gestellten Aufgabe gelingt, und wär’s in der Schule, in die wir allesamt lebenslänglich gehen, ich würde mir ein genügend geben, eine Note, die mich früher in meinem Ehrgeiz tief getroffen hätte; heute denke ich mir: Hee, genügend, nimm’s wie es der Begriff besagt.

Die Mutter war immer die Situationen analytisch angehende Person, hatte stets letztlich haltende Erklärungen für Vorgänge und Phänomene jedweder Art, inklusive dem Gespenst unterm Bett. Von dieser kausalen Weltsicht hat sie sich nun nach und nach (vermutlich längstschon) zurückgezogen. Zunehmend geht sie nun ausschließlich von ihrem persönlichen Erleben aus, von in schlaflosen Nächten zusammengereimten Erklärungen, wie nur etwas sein kann und kommen konnte, musste. So verfällt sie, von außen (wie außen? – s.o.) betrachtet, zunehmend einem immer pureren Radikalen Konstruktivismus: Die Welt ist so, wie wir sie uns zurechterklären, sie kann gar nicht anders sein.

(Aber so ist sie doch, die Welt, und in ihrem Zentrum ein riesiges Schwarzes Loch mit Namen: ICH!)

Ein Beispiel (wenn’s denn ein Spiel wäre!): Der beständige Fortschritt der Technik hat uns das Rufhilfearmband beschert, und glücklicherweise legt es die Mama auch geflissentlich an, sie weiß, dass es sie, die allein lebt, in prekären Situationen (die Teppiche werden beharrlich nicht weggeräumt, ein verständlicher Akt der Selbstbehauptung wider die Ausschaltung von Stolperfallen) retten kann: Ist sie hingefallen oder geht es ihr sonst nicht gut, so, dass sie nicht zum Telefon könnte (in solchen Fällen wäre das Handy zu kompliziert, sie ignoriert es generell und hat es nur zum Abheben, das, verwirrend genug, ein druckloses Wischdrücken ist), kann sie den roten Auslöser drücken, woraufhin recht zügig ein Anruf von der Rettung kommt, ob es ihr nicht gut gehe oder eh alles okay sei. Was für eine segensreiche Erfindung! Nun kommt es seit einiger Zeit immer häufiger vor, dass sie von der Rettung »aus heiterem Himmel«, angerufen wird, ob es ihr eh gut gehe, zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten, aber glücklicherweise nur, wenn sie ohnehin auf ist, selbst nachts, auf wunderliche Weise, immer nur dann, wenn sie grad aufs Klo geht, sie wird also nie aufgeweckt von diesen Kontrollanrufen. Da ist dieser – eh sehr freundliche, da kann man garnichts sagen – Funkleitsprecher beim Roten Kreuz, der sich insbesondere ihrer annimmt, dem ist wahrscheinlich fad, so mitten in der Nacht. Sie sagt dann immer, dass eh alles in Ordnung ist mit ihr, denkt sich, das ist aber lieb, dass sich der nach mir erkundigt, dann kann sie aber zwei Stunden oder mehr nicht einschlafen und muss stattdessen, wie das die alten Leute nun einmal so tun, studieren; irgendwann muss sie dann doch eingeschlafen sein, sonst wäre sie nicht am Morgen, nicht so recht ausgeruht, doch aufgewacht.

Mehrmals habe ich versucht ihr nahezubringen, dass sie wohl unabsichtlich (aber, unter uns: Wer weiß!?) die Rufhilfe aktiviert haben muss, was sie jedoch, wie zu erwarten, beharrlich bestreitet. Ich gebe auf. Ich will sie doch nicht belehren, und sie soll ihr Gesicht wahren können, auch vor mir, der über ihre beschleunigt zunehmenden Defizite am detailliertesten bescheid weiß.

Um ihr nicht mit meinen Vermutungen Unrecht zu tun (bei mir! – was nützte es, ihr das weiterzuspielen?), rufe ich in der Rufhilfe-Leitstelle des oberösterreichischen Roten Kreuzes an, die sollten jede Interaktion protokolliert haben. Haben sie. Und kennen das. Was soll man machen. (Punkt, kein Fragezeichen.)

Als Kinder, wenn wir »Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein« aus vollem Hals mitgesungen haben, wir konnten uns die Situation lebhaft vorstellen, dass sie genauso geschieht, gerade jetzt (das Lied steht im Präsens, von dem wir damals auch noch keine Ahnung – aber das vollinhaltliche Wissen! – hatten); keiner hat infrage gestellt, ob denn eine Biene und ein Stachelschwein miteinander reden können, was deren (je unterschiedlicher) Begriff von Schönheit sei, von Welt, von Du und Ich.

Kinder wissen, wie die Welt ist. Wir werden, umgekehrt, wieder so, keine Bange, und es ist keine Glaubensfrage!