siebzig

9. November 2006

Siebzig Minuten sollte das Stück dauern, wusste man schon vor der Uraufführung, wieso wissen die das, wenn es noch nie gespielt worden ist, fragte er sich, und es waren in der Tat siebzig prallvolle Minuten, selten zuvor hatte er derart viele Lungengesunde in einem Konzert in Wien versammelt gesehen und eben nicht hören müssen, Versenkung, ein Schweben. Trotz aller Kontemplation bewirkte die Zeitangabe bei ihm ein, wenn auch minimales, Schwanken in seiner Konzentration, und manchen anderen schien es ebenso zu gehen, wie sollte man außerdem siebzig Minuten gleichmäßig einigermaßen bequem sitzend zu verbringen in der Lage sein, zumal bei einer Musik, wo er jede geräuschlose Umgruppierung der Position seiner Wirbel samt Bandscheiben, ja selbst das Hinabschlucken seines idealtypisch hörenden Nachbars am sich hebenden Kehlkopf vorbei als akustische Intervention empfinden musste, was ihn wieder auf die Grundinformation siebzig Minuten brachte, und da ließ es sich nicht vermeiden, dass er von Zeit zu Zeit möglichst unauffällig auf seine Armbanduhr schauen musste, aber versuchen Sie einmal in derÖffentlichkeit heimlich auf Ihre Uhr zu schauen, es wird Ihnen nicht gelingen oder Sie werden zumindest die Gewissheit haben, dass es alle anderen gesehen haben, stellte er sich vor und konnte während das gesamten Konzerts doch niemanden beobachten, der die eben gegenwärtige Position auf der Zeitstrecke (drei Siebtel, vier Siebtel, …) von seinem Arm ablesen wollte, was strenggenommen ein durchunddurch undurchführbares Unterfangen war, denn du kannst entweder die Dynamik oder den Ort feststellen, so ist das auch mit der Musik, Musik wie überhaupt das Leben in seiner Gesamtheit vermessen zu wollen wäre einigermaßen vermessen, es kann nicht gelingen, und das ist doch ein tröstlicher Gedanke.
Wer sollte also noch jemals wieder auf die Uhr schauen wollen?, und auch er vergaß darauf und konnte sich später nicht mehr auf den Zeitpunkt erinnern, wozu auch?